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Porträt PETER ESTERWITSCH Würschtler
MIT HUNDERT KÄSEKRAINERN
VON ANNA GOLDENBERG
Neben dem Standardprogramm Dosenbier gibt’s beim Leo auch Piccolos für g’spritzteres Publikum

Eine richtig gute Eitrige ist im Grunde genommen kein Fast, sondern Slow Food
Peter Esterwitsch grillt seit drei Jahren Würstl beim Leo am Gürtel. Wie begegnet er den Exzesshungrigen aus allen Schichten?
Der Exzess schmeckt nach Käsekrainer. Vor allem Freitag- und Samstagnacht, wenn der Würstelstand Leo beim Döblinger Gürtel bis fünf Uhr morgens geöffnet hat. Über hundert Stück der gebratenen Brühwurst gehen dann locker weg, sagt Peter Esterwitsch, dunkelblaues Langarm-Poloshirt und gleichfarbige Schirmkappe, beide mit einem leicht verwaschenen türkisen Logo des Betriebs. Ob aufgeschnitten, als normaler Hotdog oder als Gourmet-Hotdog, also in einem der Laugenstangerl serviert, die in Reih und Glied auf dem Glasregal neben der Kasse auf Kundschaft warten – Käsekrainer sind das beliebteste Gericht.
Möglicherweise spielt dabei ein wissenschaftliches Rätsel eine Rolle: Alkoholkonsum macht hungrig, obwohl das Zeug hochkalorisch ist. Ein großes Bier hat etwa so viele Kalorien wie zwei Eier. Warum gibt der Körper das Sättigungsgefühl nicht an das Hirn weiter? Experimente mit Mäusen im Jahr 2017 zeigten, dass Alkohol Zellen im Hirn aktiviert, die sonst nur feuern, wenn der Körper hungert. Im Menschen wurde dieser Mechanismus bislang nicht nachgewiesen. Er könnte aber erklären, warum gerade deftige Speisen eine durchzechte Nacht perfekt abzurunden scheinen. Wie zum Beispiel Käsekrainer.
Der Würstelstand Leo, eröffnet 1928, ist nächtens der wichtigste Nahversorger für Besucher*innen der Gürtellokale rund um die Nussdorfer Straße. Sonntags sperrt er um Mitternacht, Montag und Dienstag um zwei Uhr, Mittwoch und Donnerstag um vier Uhr morgens zu. Während der Fortgehnächte überdauert „der Leo“ die anderen Imbissstände, die sich rund um die U6-Station angesiedelt haben. Nachts ist das Publikum jung, im Loco gibt es vor 20 Uhr Cocktails um 1,90 Euro, bei Shishita werden Wasserpfeifen wahlweise mit (vereistem) Bazooka-Schlauch serviert.
„Vom Uniprofessor bis zum Müllmann kommen alle her“, sagt Esterwitsch, 60, der wie seine drei Kollegen im Verkauf sowohl Tag- wie Nachtdienste schiebt. „Man muss jeden separat einstufen, wie er tickt.“ Ob der Stammkunde, der um elf Uhr vormittags eine Dose Gösser bestellt und plaudern will, oder der Mann, der erzählt, er sei Bankdirektor, aber von der Sozialhilfe lebt, Esterwitsch bemüht sich, den richtigen Ton zu treffen. Damit hat der gebürtige Nieder-

Exzessseelsorger
Peter Esterwitschs Praxis liegt mitten auf dem Döblinger Gürtel, und alle kommen sie zu ihm: Bankdirektoren ebenso wie Müllmänner, Uniprofs wie junges Partyvolk. Seit Jahrzehnten arbeitet der 60-Jährige in der Gastro, seit drei Jahren ordiniert er im Würstelstand Leo. Wer nachts am Wiener Gürtel Dienst schiebt, weiß, dass es hier nichts gibt, was es nicht gibt.
DURCH DIE NACHT
Strenge Rechnung, gute Freunde gilt vor allem spätnachts und frühmorgens auf dem Gürtel österreicher Erfahrung, arbeitete er doch seit Jahrzehnten in der Gastronomie, als Kellner in einem Fünf-SterneHotel und später auf einem Expeditionsschiff. Seit drei Jahren ist er nun beim Leo. Hier plant er in Pension zu gehen. Esterwitsch hat die Welt gesehen und den Wiener Schmäh behalten. Den braucht er, vor allem wenn die Gäste kommen, die ihn am meisten nerven: Die jungen Burschen, die er zum ersten Mal sieht „und die so tun, als wärst du ihr hundertjähriger Freund, weil sie Eindruck schinden wollen“. Die anfangen, über Würste zu fachsimplen, aber nicht einmal den Ausdruck „Krokodil“ für Gurkerl oder „Bugel“ für Brotanschnitt kennen. „Willst nicht hier anfangen zu arbeiten?“, fragt er sie dann.


Auf einem roten Schneidebrett köpft Esterwitsch den HotdogWecken, mit einer routinierten Handbewegung kehrt er die Brösel auf den Boden. Im neuneinhalb Quadratmeter großen Häuschen ist jeder Quadratzentimeter verplant, der Sack mit den bunten Plastikgäbelchen unter dem Grill, das Gurkerlglas neben den weißen Porzellantellern, die Take-away-Boxen eingeklemmt neben dem Spießtoaster, der den HotdogWecken nun durchbohrt.
Esterwitsch ist ein großer, breiter Mann und bewegt sich behände durch den winzigen Raum. Probleme gibt es hier auch nachts so gut wie nie. Wenn einmal jemand nicht aufhört zu schimpfen, sagt Esterwitsch, tritt er hinaus und baut sich vor der Person auf. „Bei meiner Statur überlegt man sich’s dann“, sagt er und demonstriert seine Deeskalationstaktik. Er hat recht.
Richtig vorsichtig ist er eigentlich nur bei Pärchen. Warum? „Man darf nicht zu nett zum Weiberl sein, sonst werden die Gockel manchmal aggressiv.“ Esterwitsch erlebt nicht nur den Exzess und das menschliche Balzverhalten bei Nacht, er kümmert sich auch um die Spätfolgen. Einmal, erzählt er, kam eine junge Frau, die sich erkundigte, ob er einen BH gefunden habe. Sie sei am Vorabend fortgegangen und ohne Busenhalter nach Hause gekommen. Nein, der tauchte nicht bei ihm auf.
Esterwitsch ist ein vornehmer Mann, er will hier keine Theorien zum Wäscheschwund am Wiener Gürtel verbreiten, sondern nur seine Beobachtung teilen: „Männer verlieren Jacken, Brieftaschen und Handys, Frauen Unterwäsche und Schlüssel.“ Vielleicht ist es auch einfach die Lage des türkisen Häuschens an der großen Kreuzung von Nussdorfer Straße und Gürtel, bei der U6, zwei Straßenbahnen und eine Buslinie halten, die es zum Fundbüro gemacht hat. Die Lade mit den Fundsachen ist schräg unter der Brotschneidemaschine. Aktuell liegt darin nur eine Geldbörse. Aber wer weiß, was die nächste Partynacht bringt.

Was wäre die Wurst ohne ein Krokodil? Begleitet von einer wohltemperierten Hopfenkaltschale