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22  FALTER 25/21   H EUR EKA 4/21  :   ÖFG AR BE IT SG E M E IN SC H A F TE N

einhard C. Heinisch ist Professor für österreichische Politik in vergleichender europäischer Perspektive an der Universität Salzburg und Leiter der ÖFG Arbeitsgemeinschaft „Zukunft der Demokratie“. Herr Heinisch, was unterscheidet Österreich von anderen Demokratien westlicher Prägung? Reinhard C. Heinisch: Wenn man einen Großteil seines Lebens in den USA verbringt, sieht man vieles in Österreich mit anderen Augen. Aufgefallen ist mir hier gleich der Umgang des gelernten Österreichers mit Regeln. Da gibt es eine gewisse Lockerheit. Also Regeln, die man quasi immer einhält, andere, die man kaum befolgt. Richtig kompliziert wird es aber dann mit Regeln, an die man sich nur fallweise hält. Diese Regeln sind meist sehr penibel. Um mit ihnen zurande zu kommen, gibt es die „österreichischen Lösungen“. Die formellen und informellen Regeln klaffen in Österreich sehr weit auseinander. Das triff auch auf das politische System zu. Wo beobachten Sie diesen Spagat aus Anspruch und Wirklichkeit? Heinisch: Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Die Bundespräsidentschaftswahl 2016 wurde unter anderem aufgrund der Auszählung der Briefwahlstimmen gekippt: Statt, wie vom Gesetzgeber vorgegeben, zu warten, bis sie am nächsten Tag von Beamten protokolliert werden können, hat man sich, wie informell üblich, mancherorts gleich hingesetzt und ausgezählt. Ein anderes Beispiel wäre der Bundesrat. Faktisch hat er kaum eine Bedeutung für die Vertretung der Länderinteressen. Das tatsächlich relevante Gremium, die Landeshauptleutekonferenz, steht dagegen gar nicht in der Verfassung und ist ein informelles Treffen so wie andere private Zusammenkünfte. Die Landeshauptleute stehen nicht nur ihrem Bundesland, sondern auch ihrer Landespartei vor. Die Länderinteressen werden so nicht über die von der Verfassung vorgesehenen Institutionen gelenkt, sondern informell über die Parteien. Selbst die Erzählung der neutralen Verwaltung als Quasifortsetzung einer theresianisch-josephinischen Tradition stimmt so nicht. Die Versuche der Parteien, die Verwaltung politisch zu durchdringen, sind, wie wir jetzt wieder sehen, sehr offensich lich. So ist auch die Idee für dieses Buch entstanden. Bisher gibt es kein Werk, das diese steten Widersprüche bewusst ins Zentrum rückt und akademisch Bestand haben könnte. Ihr „Kritisches Handbuch der österreichischen Demokratie“ ist ein Gemeinschaftsprojekt. Wie kam es dazu? Heinisch: Ich leite seit fast zehn Jahren die ÖFG Arbeitsgemeinschaft „Zukunft der Demokratie“. In dieser haben wir immer wieder demokratierelevante Themen diskutiert und Forschungsergebnisse in Fach­kreisen

Österreich zwischen Sein und Schein Anspruch und Wirklichkeit des politischen Systems Österreichs – ein Autorenteam rund um den Politikwissenschaftler Reinhard C. Heinisch hat dem Thema ein Standardwerk gewidmet INTERVIEW: WERNER STURMBERGER

Reinhard K. ­Heinisch, ­Professor für ­österreichische Politik in vergleichender europäischer Perspektive an der Universität Salzburg, Leiter der ÖFG Arbeitsgemeinschaft ­„Zukunft der Demokratie“ präsentiert. Dabei ist die Frage aufgetaucht, wie wir einen nachhaltigen Beitrag zur politischen Debatte in Österreich beisteuern können. Uns war wichtig, dass unser Buch akademischen Gütekriterien entspricht, aber auch Interessierten einen Überblick über das politische System verschafft. In unseren Bestandsaufnahmen wollten wir darlegen, wo die eigenen Ansprüche hinter der gelebten politischen Realität zurückbleiben. Wir wollten das politische System aber nicht alleinig kritisch bewerten, sondern auch Lösungsansätze aufzeigen. „Österreichische Lösung“ und „kurzer Dienstweg“: Ist das im politischen System angelegt? Wie lässt sich das mit zivilgesellschaftlichen Forderungen nach Transparenz und Compliance vereinbaren? Heinisch: In anderen Systemen werden Ziele vorgegeben, die effizien zu erreichen sind, und daneben gibt es diverse Verbote. So entsteht ein Rahmen, innerhalb dessen verschiedene Wirklichkeiten und Lösungen möglich sind. In Österreich wird hierbei sofort eine Bedrohung der Rechts­sicherheit und Rechtsverbindlichkeit gesehen.

„Kritisches Handbuch der österreichischen ­Demokratie: BürgerInnen, ­Verfassung, ­Institutionen, Verbände“. Heinisch, ­Reinhard (Hg.) ­Erschienen bei ­Böhlau Verlag, 2020 ­Taschenbuch und E-Book Die Rechtsordnung und das davon abgeleitete Verständnis stehen den mündigen Bürger*innen recht skeptisch gegenüber und sehen in ihnen immer noch ein wenig die Untertanen, die man sehr genau gängeln muss, um nur ja nicht zu viel Eigeninitiative aufkommen zu lassen. Das Handeln öffentlicher Einrichtungen und Behörden unterliegt durch das Legalitätsprinzip genauen gesetzlichen Regelungen, die jedoch in Österreich extrem kleinteilig ausgelegt werden und Freiräume, eigenständige Initiativen und manchmal auch den gesunden Menschenverstand ad absurdum führen. Formal ist die Regel immer wichtiger als das Ziel, das sie verfolgt. Viele Dinge sind sehr penibel, aber nicht sehr effizient geregelt, weil der Gesetzgeber weit weg von der Praxis, etwa vom Schulalltag, agiert oder die Regelungen für alle unterschiedlichen Situationen gleich gelten sollen. Das verleitet zur Umgehung. Flexibilität entsteht oft durch das Durchbrechen der Regeln – „mir werdn kan Richter brauchen“ – oder durch die Verlagerung von formalen Entscheidungsprozessen auf ­informelle Bereiche, wie eben die Landeshauptleutekonfe-

renz. Das führt zu mangelnder Transparenz und fehlender Compliance, da sich diese Dinge hinter verschlossenen Türen abspielen. Als informelles Treffen muss etwa die Landeshauptleutekonferenz ihre Beschlüsse nicht veröffentlichen. Die Bevölkerung reagiert auf diese Doppelstandards zynisch oder politikverdrossen, weil sie zu Recht meint, die Mächtigen richten es sich, während sich die anderen an alle Regeln halten müssen. Ist diese Differenz zwischen Sein und Schein des politischen Systems auch der Verfassung geschuldet? Heinisch: Das Besondere dieser rechtspositivistischen Verfassung ist der Versuch, die Politik aus dem Recht zu entfernen. Die Verfassung ist eine Sammlung von Spielregeln, die von den Spielern gemeinsam bestimmt werden. Darüberstehende Wertesysteme und politische Zielvorstellungen spielen eine untergeordnete Rolle. Die Verfassung lässt somit verschiedene politische Vorstellungen zu, sofern sie den Spielregeln entsprechen. Es geht nicht um das Ziel, sondern um die Einhaltung der Regeln. Das entstammt den Erfahrungen des Vielvölkerstaats, wo es nicht möglich war, sich einfach auf ein allumfassendes Wertesystem zu verständigen. Im deutschen Grundgesetz oder der Verfassung der USA wird die liberale Demokratie dagegen über allgemeingültige, ewige Wertvorstellungen begründet. Aus diesen leitet sich eine moralische Verpflichtung ab, über die die Bürger*innen nicht hinweggehen dürfen. Das Problem der „wertelosen“ Kelsen-Verfassung ist, dass verschiedene Verfassungsrealitäten möglich sind, solange sie dem Buchstaben des Gesetzes entsprechen. Solange alle Akteure die Prinzipien der liberalen Demokratie vertreten, ist das nicht besonders besorgniserregend. Aber in ­einer Zeit, wo es verschiedene Auffassungen von Demokratie gibt – Stichwort Orbánisierung –, kann das zu ­einem Problem werden. Wenn man die beiden letzten Bundesregierungen betrachtet, kann man dann festhalten, dass sich dieses Verständnis bereits verschoben hat? Heinisch: Gefühlt würde ich auch ­behaupten, dass früher selbst bei den mächtigsten Politiker*innen dieses Landes generationenbedingt ein größerer Respekt vor dem System herrschte. Es gab die Bereitschaft, sich selbst Schranken aufzuerlegen, weil man die Erfahrung mit Diktaturen gemacht hatte. Selbst in den USA würde ich diesen Effek nicht unterschätzen. Das wird deutlich, wenn man Richard Nixon mit Donald Trump vergleicht. Man hat natürlich auch früher versucht, die Spielregeln zu seinen Gunsten auszulegen, ohne aber das Spiel komplett außer Kraft zu setzen. Heute ist das Gewinnen oft wichtiger als das Spiel. Über Selbstbeschränkun-

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