HEUREKA 4/21

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Kulturforschung mit Weitwinkel Sabine Coelsch-Foisner, Leiterin der ÖFG ARGE Kulturelle Dynamiken, beschreibt die Ziele ihrer Arbeit TEXT: SABINE COELSCH-FOISNER. KOAUTOR BRUNO JASCHKE

K

ulturelle Dynamiken sind Entwicklungen und Prozesse, die man in unterschiedlichen Bereichen der Kultur, auch der Alltagskultur, erkennen kann: Ein komplexes Bedingungsgefüge aus kultureller Produktion und Wahrnehmung, das unser gesamtes Umfeld betrifft. Darin werden Tendenzen sichtbar, die oft über lange Zeit verfolgt werden können, unter bestimmten technischen oder gesellschaftlichen Voraussetzungen wie in einer Pandemie auch veränderte Formen annehmen können. Diese Prozesse stehen im Fokus der ARGE Kulturelle Dynamiken. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Offenheit und Durchlässigkeit der Forschung für viele Disziplinen. Moderne Technologien, mediale Vernetzungen sowie komplexe Rechtsstrukturen erfordern es, die kulturellen Dynamiken auch in Kooperation mit Disziplinen zu denken, die in kulturwissenschaftlichen Forschungsnetzen wenig repräsentiert sind, wie etwa die Biowissenschaften, die technischen Wissenschaften oder die Rechts- und Wirtschaftswi senschaften Erforschung von Kultur mit weitem Blickwinkel Als neues Forschungsparadigma muss die kulturelle Produktionsforschung den Blick so weit öffnen, dass er nicht nur die künstlerische Performance, sondern auch die Technik, die Fertigungsstätten und das Handwerk, den Transport und sogar die Entsorgung erfasst. Diese Bereiche, ohne die Kulturproduktion meist nicht möglich wäre, werden üblicherweise außer Acht gelassen. Forschung über die Grenzen von Disziplinen hinweg ist mir ein grundsätzliches Anliegen. 1998 hatte ich ein APART-Stipendium der Akademie der Wissenschafte bekommen. Unter den Bewerber*innen war ich eine von elf Stipendiat*innen, die einzige Geisteswissenschaftlerin unter Forschenden wie einem Astrophysiker, einer Theologin oder einem Mediziner. Wir hatten interdisziplinäre Workshops zu absolvieren und es dabei geschafft, uns auszutauschen und zu verständigen. Das hat mich so beeindruckt, dass zurück an der Universität mein unbedingter Wunsch war, ein interdisziplinäres Forschungszentrum aufzuziehen. „Metamorphischer Wandel in den Künsten“ hat das geheißen. Mittlerweile arbeite ich als Forscherin und Dozentin an der Universität Salzburg in den Fachgebieten Anglistik, Literaturwissenschaft, Kulturtheo-

rie, Cultural Studies, Production Studies, Komparatistik, Ideengeschichte und Ästhetik und bin Autorin und Herausgeberin zahlreicher Fachpublikationen. Es war 2011 beim Wissenschaft tag der Österreichischen Forschungsgemeinschaft ÖFG, als ich an eine eigene ARGE dachte, die Kulturwissenschaft sehr breit auffächert. Nicht nur im herkömmlichen Sinn der kulturwissenschaftlichen Fächer, wie sie weitgehend institutionell verankert sind. Es sollten auch Disziplinen miteinbezogen werden, die nicht kulturwissenschaftlich arbeiten, ohne die man aber Kulturwissenschaften nicht denken kann. Im Jahr darauf wurde die ARGE „Kulturelle Dynamiken“ gegründet. 2013 fand die erste Tagung statt. Ein Bündel an unterschiedlichen Disziplinen Die ARGE besteht aus Forschenden unterschiedlicher Literaturwissenschaften, der Geschichte, Anthropologie, Ethnologie, Medizingeschichte und -ethik, aus Philosophie, Wissenschaft theorie und Theologie. Wir verstehen uns gut, weil alle kulturwissenschaftlich arbeiten, selbst wenn sie unterschiedliche Forschungsgegenstände und auch unterschiedliche Ansätze haben. Das Erkenntnisinteresse der ARGE Kulturelle Dynamiken richtet sich an sieben Forschungsclustern aus, die eng miteinander verbunden sind: ● Memorialisierung: Erforschung von Formen und Methoden der Archivierung von Kultur im historischen und politischen Kontext ● Theatralisierung: Erforschung der Übertragung theatraler Effekte und Strategien auf unterschiedliche Bereiche der Lebenswirklichkeit ● (Trans-)Medialisierung: Erforschung, wie neue Medien neue Realitäten erzeugen und wie Kultureinrichtungen diese für sich nutzbar machen ● Visualisierung: Erforschung der Verbildlichung von Lebensrealitäten ● Hybridisierung: Erforschung von Interferenzen künstlerischer Gattungen, Interkulturalität und Akkulturation ● (De-)Lokalisierung: Erforschung, wie die Ausdehnung des menschlichen Handlungsradius kulturellen Austausch und Transfer ermöglicht ● Kommodifizierung: Erforschung der wirtschaftlichen Verwertung kultureller Produktion

Theatralisierung: Erforschung der Übertragung theatraler Effekte

Sabine CoelschFoisner, Leiterin der ÖFG ARGE Kulturelle Dynamiken

Die Arbeit der ARGE am Beispiel Visualisierung Ich möchte als Beispiel für die Arbeit der Forschungscluster die Visualisierung anführen, weil sich hier eine besondere historische Dynamik zeigt, die unter wechselnden gesellschaftlichen, technischen und soziologischen Voraussetzungen immer neue Formen angenommen hat und annimmt. Es beginnt bei der Höhlenmalerei und führt, getrieben von technischen Entwicklungen, zur Frühmoderne, da optische Theorien hinzukommen und die Illustration, ein Anschaulichmachen von Wissensinhalten, an Bedeutung gewinnt. Im 19. Jahrhundert wird eine wahre Bilderflut ausgelöst. Das hat mit der verbesserten Drucktechnik zu tun, die eine billigere Reproduktion von Bildern, auch farbigen, möglich macht. Was im Übrigen auch die große Zahl an Kinderbüchern aus dieser Zeit erklärt. Gleichzeitig entsteht im 19. Jahrhundert in der Wissenschaft ein Misstrauen gegenüber Bildern. Für Bilder werden Kunstmuseen gebaut, Gegenstände kommen in Heimat- oder andere Museen wie etwa Technische. So werden Geschichte und Bild getrennt. In unserer Zeit hingegen gelten


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