76 KULTUR
Schon möglich, dass es irgendwann einmal einem Bewohner des Tales gelungen ist, einen der sagenhaften Schätze zu heben. Überliefert wurde so eine Geschichte aber nicht. Vielleicht, weil das Ende zu langweilig wäre und zu wenig lehrreich.
W
enn das Tannheimer Tal den Mantel der blauhimmlig-sonnigen Postkartenidylle langsam ablegt und die Rote Flüh ihrem Namen alle Ehre macht, weil der Sonnenuntergang diesen markanten Gipfel regelrecht glühen lässt, zeigen die Schatten der Kirchtürme nach Osten. Wie Pfeile. Fast so, als würden sie die Menschen auffordern, das Tal geschwind zu verlassen oder zumindest nach Hause zu gehen und die Türen zu verriegeln. Denn draußen, wo es am Tag noch so klar war und friedlich, beginnt nun eine andere Zeit. Die Zeit einer anderen Welt, in der nicht Bürgermeister, Bergführer oder Schilehrer den Ton angeben, sondern Hexen, Ungeheuer und Geister. Wer nicht weiß, was da in den Felsspalten der Tannheimer Berge lauern kann, der könnte eine Überraschung erleben. Eine, die nicht so schnell vergessen und schon seit Urzeiten mit gruseligem Timbre erzählt wird. W i e j e n e d e s Bogener Ungeheuers.
Keiner kann so recht sagen, wie es aussieht. Vielleicht, weil keiner die Erinnerung mit bildhaften Worten wiederbeleben will. Bekannt ist aber, dass es im Berg lebt, im Bogener Berg, der sich am Weg zum Vilsalpsee erhebt und diesem Weg auf bizarre Weise näherrückt, je dunkler es wird. Eine stattliche Felsspalte bildet den Eingang zur Höhle des Ungeheuers, das dort fast immer friedlich lebt. Fast ist das Zauberwort, denn
nähert sich mit einem Gewitter „ein recht wüst Wetter“, dann wacht das Ungeheuer auf und macht mit dumpfem Geheul und einem Dröhnen auf sich aufmerksam. D e r G e o l o g e und Heimatforscher
Karl Reiser hat das in seinem 1895 erschienenen Buch „Sagen, Gebräuche und Sprichwörter des Allgäus“ festgehalten. Selbstverständlich ist das Tannheimer Tal ein Stück Tirol – ein ausnehmend schönes, um genau zu sein –, doch das bayerische Allgäu ist über zwei Talausgänge zu erreichen, „Resttirol“ hingegen nur über einen. Reiser scheinen diese politischen Grenzen auf seiner Schatzsuche nach den Sagen nicht beeindruckt zu haben. Und so wusste er Tirol_Magazin
über den Moment, in dem das Bogener Ungeheuer ungeheuerlich wird, zu berichten, dass die Luft dann regelrecht „rebellisch“ werde, halbgroße Tannen im Handumdrehen aus dem Boden reiße und ein Stück weit durch die Luft trage. Dieser Bericht ist fast schon gnädig harmlos gegenüber jenen, in denen das Ungeheuer in seiner Gewitterwut Dächer im nahen, zu Tannheim gehörenden Weiler Schmieden abdeckt und regelmäßig geladene Fuhrwerke umwirft. Zart besaitete Gemüter sollten die nun folgenden Zeilen überspringen, wird das Bogener Ungeheuer doch auch als drachenartiges Biest beschrieben, das Menschen und Tiere nicht nur raubt, sondern sie tötet, indem es das Blut aus ihren Adern saugt.