104 MENSCH
„UNSER LEBEN KANN MAN NICHT ERKLÄREN, MAN KANN ES NUR LEBEN.“ Schwester Marie Raphael
D
ie Pausenglocke der Volksschule am Stiftsplatz ist gerade verhallt, da machen sich inmitten der Haller Altstadt Gejohle und Kinderlachen breit. Dass wenige Schritte von diesem lebhaften Geräuschorkan entfernt der Eingang zu einem außergewöhnlichen Ort der Stille liegt, will man da fast nicht glauben. Doch schon öffnet sich – mit modernem Summerton – die Pforte zum „Herz-Jesu-Kloster“, das anno 1912 vom zwei Jahre später ermordeten Thronfolger Franz Ferdinand an die „Société des Filles du Sacré Cœur“ übergeben wurde. Die „Töchter des Herzens Jesu“ in ihren blütenweißen Ordenskleidern bekommt man außerhalb der Klostermauern so gut wie nie zu Gesicht: Andacht, Stille und Zurückgezogenheit bestimmen den Alltag der Klausurschwestern, um die sich so mancher Mythos rankt. Etwa jener, dass sie nie sprechen dürfen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Gehorsam gehört dazu.
Schwester Marie Raphael sitzt im geräumigen Sprechzimmer, das dezente Beichtstuhl-Atmosphäre ausströmt. Ein hölzernes Gitter trennt den klerikalen vom weltlichen Bereich – erst am Ende des Gesprächs wird die gebürtige Schweizerin, die in der Haller Ordensniederlassung seit knapp einem Jahr als Schwester Oberin wirkt, das Gitter kurz für ein paar Fotos öffnen. V e r s c h l o s s e n w i r k t die 66-Jäh-
rige aber auch davor nicht: Packend erzählt sie von ihrer Kindheit in einer
Zur Geschichte Die „Société des Filles du Sacré Cœur“ (Kongregation der Töchter des Herzens Jesu) wurde 1873 in der Nähe von Antwerpen von der in Marseille geborenen Marie de Jésus Deluil-Martiny gegründet. Niederlassungen dieses Klausurordens, der auf Andacht und Stille ausgerichtet ist, gibt es in Schwyz, Marseille, Rom, Venedig, dem kroatischen Lasinja und eben in Hall. Das Kloster befindet sich auf dem Gelände des ehemaligen Haller Damenstifts, das Ferdinand II. 1567 für seine zwei ledigen Schwestern Magdalena und Helena gründete. Damen des Hochadels wurde hier ein sorgenfreies, frommes Leben geboten, der Einzug ans Stift war aber an eine stattliche Mitgift geknüpft. 1783 wurde das Haller Damenstift von Kaiser Joseph II. aufgehoben. In der Folge wurde das Stiftsgebäude als Wohnhaus genutzt, die Kirche profaniert und unter anderem als Stadtspital genutzt. Anno 1912 veranlasste Thronfolger Franz Ferdinand, dass Stiftsgebäude und Kirche an die beschauliche Ordensgemeinschaft übergeben werden, deren Hauptaufgabe im Gebet liegt. Gesprochen wird hier nur das Nötigste: Der Gründerin geschuldet ist die Gemeinschaftssprache Französisch. Im Herz-JesuKloster in Hall leben aktuell neun Schwestern. Da fünf von ihnen vom Kloster in Lasinja kommen, hat sich auch Kroatisch als Gemeinschaftssprache etabliert.
Tirol_Magazin
„normal katholischen“ Familie und von dem Moment, an dem sie das erste Mal den Ruf Gottes spürte. Gerade einmal vier Jahre alt war sie und schon sicher, dass „nur Jesus den Schlüssel zu meinem Herzen haben sollte“. Je älter sie wurde, desto klarer war für sie, dass ihr Weg ins Kloster führen sollte. Die ursprüngliche Idee, in die Mission zu gehen, verwarf sie zugunsten eines Lebens in der Klausur. Als sie mit 18 ihr Köfferchen im St.-Josefs-Klösterle in Schwyz abstellte, spürte sie, „dass ich angekommen bin“. Ihre Eltern – ein Bahnbeamter und eine Schneiderin – waren über ihre Entscheidung jedoch weniger beglückt. „Die Mama war tieftraurig und der Vater hat getobt: Aber beide haben geglaubt, dass ich wieder nach Hause kommen werde, weil es mir im Kloster sicher zu langweilig wird“, sagt Schwester Marie Raphael, die schon damals wusste, dass Mutter und Vater falsch liegen sollten. Ihr Zuhause hat sie seither nicht mehr gesehen, ihre Eltern allerdings schon: Nur mussten diese fortan auf Reisen gehen, um ihre Tochter zumindest ein paar Mal im Jahr zu treffen.
Vo n S c h w y z ging es für Schwester Marie Raphael weiter zu den Klosterniederlassungen nach Marseille, Rom und Kroatien, ehe sie in Hall landete. „Man hat mir gesagt, dass ich hierher muss. Und das habe ich befolgt. Dieser Gehorsam gehört dazu“, erklärt sie mit sanfter Stimme, die tatsächlich nur spärlich zum Einsatz kommt. Ora et labora.
Das Leben hinter den Klostermauern ist von Stille geprägt: So verlangt es